Sylvia K. und die Affektheuristik
„Ich hatte mehr Angst vor dem Medikament als vor der Krankheit – bis ich verstanden habe, was ich da eigentlich riskiere.“

1. Was ist passiert?
Sibylle K., 57 Jahre, ehemalige Sportlehrerin, lebt seit vielen Jahren mit chronischer Polyarthritis. Die Schmerzen und die Morgensteifigkeit nehmen langsam zu, trotz Basistherapie mit Methotrexat. Ihr Rheumatologe empfiehlt daher den nächsten Schritt: eine Behandlung mit Adalimumab, einem sogenannten Biologikum, das die Entzündungsprozesse gezielt hemmt und das Fortschreiten der Erkrankung wirksam verlangsamen kann.
Sibylle ist zunächst offen, liest aber zu Hause den Beipackzettel und recherchiert im Internet. Dort stößt sie auf Berichte über Infektionen, seltene Krebsfälle, dramatische Einzelschicksale.
Was als Therapieempfehlung begann, wird in ihrem Kopf zur Bedrohung:
„Ich will keine Medikamente, die das Immunsystem ausschalten. Wer weiß, was ich mir damit einhandle?“
Sie entscheidet sich gegen die Behandlung. Stattdessen bleibt sie bei Schmerzmitteln, pflanzlichen Präparaten und gelegentlichen Kortisonspritzen – „das kommt mir natürlicher vor“.
Zwei Jahre später sind mehrere Gelenke dauerhaft geschädigt, die Beweglichkeit stark eingeschränkt. Ihre frühere Selbstständigkeit im Alltag ist verloren gegangen.
2. Wenn sich Risiko größer anfühlt, als es ist
Sibylles Entscheidung war keine unüberlegte Verweigerung. Sie war das Ergebnis einer verzerrten Risikowahrnehmung – ein Phänomen, das die Psychologie gut kennt.
Ein zentraler Mechanismus dabei ist die sogenannte Affektheuristik: Wir bewerten Risiken nicht nur mit dem Verstand, sondern stark über das Gefühl. Was sich beängstigend, unnatürlich oder fremd anfühlt, erscheint uns gefährlicher – selbst wenn die statistische Wahrscheinlichkeit gering ist.
Sibylles Angst entstand nicht nur durch das Lesen des Beipackzettels oder Internetforen – sie wurde auch durch einen bekannten Satz mitgeprägt, den wir alle im Ohr haben:
„Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“
Dieser Satz ist gut gemeint und medizinisch korrekt – aber er setzt unbewusst ein mentales Signal, das unsere Aufmerksamkeit auf Gefahren fokussiert.
Die Psychologie spricht hier vom Priming-Effekt: Einzelne Wörter oder Formulierungen aktivieren bestimmte Gedankennetze – ohne dass wir es merken. Wer das Wort „Risiko“ hört, beginnt (oft automatisch), nach möglichen Bedrohungen zu suchen – nicht nach Nutzen oder Chancen.
Die Arbeiten des amerikanischen Psychologen Paul Slovic, einer der Pioniere der Erforschung unserer Risikowahrnehmung zeigt genau das:
- Risiken, die emotional aufgeladen sind, fühlen sich größer an.
- Neue, komplexe oder schlecht kontrollierbare Risiken – wie bei modernen Medikamenten – wirken bedrohlicher.
- Vertraute oder schleichende Gefahren hingegen – wie die unbehandelte Entzündung bei Rheuma – werden oft unterschätzt.
So wurde Adalimumab für Sibylle nicht zu einem Schutzfaktor, sondern zu einem Angstthema.
Das scheinbar passive „Nichts tun“ fühlte sich sicherer an – obwohl es langfristig das eigentliche Risiko darstellte.
3. Warum Sibylle ihre Einstellung änderte
Bei einem späteren Kontrollbesuch nimmt sich ein junger Arzt Zeit für das Gespräch. Er fragt nach ihren Ängsten – und hört zu. Dann sagt er:
„Viele Menschen fürchten Nebenwirkungen, die vielleicht nie eintreten – und unterschätzen dabei, was ihre Krankheit tatsächlich schon mit ihnen macht.“
Er zeigt ihr bildlich, was „Stillstand“ bei chronischer Entzündung bedeutet. Nicht das Medikament sei das Risiko – sondern das Fortschreiten ohne Schutz.
Er sagt:
„Adalimumab wirkt leise. Sie merken es kaum – aber es hält Ihre Gelenke beweglich.“
Sibylle beginnt zu verstehen: Nicht zu handeln war keine Schonung – es war ein Verzicht auf Schutz.
Sie entscheidet sich für die Therapie.
4. Was andere Patient:innen aus Sibylles Geschichte lernen können
- Risiken fühlen sich oft größer an, wenn sie emotional aufgeladen sind.
- Wir neigen dazu, Medikamente nach unserem „Bauchgefühl“ zu bewerten – nicht nach Nutzen und Notwendigkeit.
- Entscheidungen, die auf Angst beruhen, führen selten zu langfristigem Gewinn.
- Vermeintliches Nicht-Handeln ist auch eine Entscheidung – mit Folgen.
Wenn Sie also denken:
„Ich will kein Risiko eingehen.“
… fragen Sie sich auch:
„Welches Risiko gehe ich ein, wenn ich nichts ändere?“
Warum Sibylle ihre Geschichte veröffentlicht hat
Sibylle möchte anderen Mut machen, nicht nur auf Ängste zu hören – sondern auf Aufklärung, Beziehung und das eigene Langfrist-Ziel:
„Ich wollte vorsichtig sein. Aber ich habe lange nicht erkannt, dass meine Krankheit der wahre Risikofaktor war – nicht das Medikament.“
Sie hat gelernt: Vertrauen entsteht nicht durch Risiko-Freiheit – sondern durch ehrliche Information und gute Begleitung.
Entscheidungen wie die von Sibylle waren der Anlass für ein Bildmotiv, das heute in vielen Arztpraxen und Apotheken hängt.
Die Botschaft an Patient:innen lautet: Nicht jedes ungute Gefühl ist ein guter Ratgeber.
Denn wer nur nach dem Bauch entscheidet, überschätzt oft mögliche Risiken – und vergisst dabei, was ein Medikament leisten kann.

Sylvia und die Affektheuristik
Ein Grund für Sylvias Entscheidung gegen das Medikament war die Affektheuristik. Sie ist eine der häufigsten Abkürzungen, die wir auf dem Weg zu unseren Entscheidungen nehmen.

Mehr über unsere Abkürzungen beim Entscheiden finden Sie hier.
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